Venezuela: Die gescheiterte Revolution
In keinem der drei Länder ist die revolutionäre Utopie, der Hannes Bahrmann auf den Grund zu gehen versucht, derart verkommen wie in Venezuela.
Das reichste Ölland Lateinamerikas wurde in zwei Jahrzehnten zum Armenhaus des Kontinents heruntergewirtschaftet. Angeblich hat daran ein von den USA entfachter „imperialistischer Wirtschaftskrieg“ Schuld – wie ihn schon Hugo Chávez, der Gründervater dieser sog. „bolivarischen Revolution“, gern beschworen hat, um eigenes Versagen zu verschleiern.
Und was heißt überhaupt „Wirtschaftskrieg“? Der Autor stellt lapidar fest, dass bis weit in die 2000er Jahre „60 Prozent der venezolanischen Ölexporte in die Vereinigten Staaten gingen“. Dort besitzt Venezuela mit der CITGO-Kette 14.000 Tankstellen, die seit 2016 pikanterweise zur Hälfte die Milliarden-Kredite aus Russland absichern.
Hannes Bahrmann entlarvt zahllose solcher Mythen, um nachzuweisen: der Ruin ist vor allem hausgemacht, ist systemimmanent.
Chávez und noch heftiger sein Statthalter Maduro haben immer wieder behauptet, dass das von ihnen geschaffene, elektronische Wahlsystem von höchster Zuverlässigkeit sei. Doch Chávez hat es bereits 2004 manipuliert, und Maduro hat es endgültig zur Farce degeneriert – belegt der Publizist ausführlich.
Auch das international gelobte Sozialprogramm zur Bekämpfung der Armut, Missionen genannt, diente vor allem dem Machterhalt, denn es kam hauptsächlich den eigenen Parteigängern zugute, war weder nachhaltig angelegt noch wurde die Verwendung ausreichend überprüft. Ergebnis: „Die Hälfte der 2,5 Millionen Venezolaner, die bis 2014 in den Genuss sozialer Unterstützung gekommen waren, war gar nicht arm. Im sozialen Wohnungsbau waren es sogar 90 Prozent.“
Höchst bemerkenswert ist Hannes Bahrmanns Darstellung der Abhängigkeit des venezolanischen Regimes vom cubanischen System. Chávez sah in Fidel Castro sein großes Vorbild, und für den Máximo Líder war der ehemalige Oberstleutnant eine Art Erfüllungsgehilfe seines sozialistischen Traums. Beide brauchten einander.
Kuba war Ende der 90er Jahre dringend auf äußere Hilfe angewiesen, und Chávez lieferte sie ihm durch großzügige Ölzuteilungen und Milliarden-Kredite. Dafür übernahmen die Kubaner die Kontrolle über nahezu alle sensiblen Daten des Landes, vom Wahlregister bis zur Überwachung der Ölförderung und der Datenkommunikation des Präsidialpalastes.
Die oft zitierte Hilfe durch medizinisches Personal aus Kuba war nur ein humaner Nebeneffekt, denn tatsächlich ging es Havanna „um die Sicherung des venezolanischen Machtsystem und damit des wirtschaftlichen Überlebens der Insel.
Hunderttausende fliehen aus Venezuela, und Wirtschaft und Währung stehen vor dem völligen Zusammenbruch. Hannes Bahrmann erklärt, wie der erdölreichste Staat der Erde infolge von Korruption und Misswirtschaft verfallen ist.
Der Autor lässt den gängigen Erklärungsversuch nicht gelten, dass Präsident Nicolás Maduro nach dem Krebstod seines charismatischen Vorgängers Hugo Chávez überfordert war und den Verfall der Erdölpreise nicht zu managen verstand.
Er lässt schon an Chávez kein gutes Haar. Er sieht, gestützt auf Dokumente und Aussagen zahlreicher ehemaliger Weggefährten von Chávez in der „Bolivarianischen Revolution“ in erster Linie ein Programm zur Selbstbedienung und Machtverfestigung, das einigen Kämpfern und ihren Getreuen märchenhaften Reichtum bescherte. Misswirtschaft und hemmungslose Korruption haben, wie der Autor betont, aus dem reichsten Land des Subkontinents ein Armenhaus gemacht. So verpfändete bereits Hugo Chávez Venezuelas Erdölreserven und die Tankstellenkette Citgo in den USA für Milliardenkredite an China und den russischen Staatsbetrieb Rosneft. Darüber hinaus werden heute höchste Funktionäre und deren Angehörige – bis zum Sohn und Neffen der Gattin des jetzigen Präsidenten Nicolás Maduro – in den Vereinigten Staaten wegen Drogenhandels gesucht.
Chávez umgab sich seit seiner ersten Amtszeit mit dubiosen Gestalten wie dem argentinischen Neonazi Norberto Ceresole, schreibt Bahrmann. Die Machtbasis des ehemaligen Fallschirmjägeroffiziers war stets die Armee und der kubanische Geheimdienst, dessen Agenten in praktisch allen Institutionen des Landes das Kommando übernahmen. Auch in den vielgepriesenen Sozialprogrammen der Regierung, die wesentlich zur Armutsbekämpfung beitrugen, sieht Bahrmann vor allem ein wahltaktisches Vehikel, das Chávez auf Anraten seines Freundes Fidel Castro geschaffen habe. Die eiserne Kontrolle der Regierung über sämtliche Institutionen und auch über die Wahlcomputer des Landes habe sämtliche Wahlen zur Farce gemacht. Als die Opposition bei den Parlamentswahlen 2016 trotzdem siegte, entmachtete die seit 2013 amtierende Regierung Maduro das Parlament mit Hilfe einer verfassunggebenden Versammlung.
Man mag den negativen Grundton der Analyse nicht teilen, weil Chávez immerhin die Armut gemindert hat und vielen heute noch als Held gilt. Doch Bahrmann, der mehr als die Hälfte seines Lebens in der DDR verbracht und dabei ein feines Sensorium für die autoritäre und repressive Kaderherrschaft hinter sozialistischer Kampfrhetorik entwickelt hat, überzeugt mit vielen Fakten. Sein Band über Venezuela ist der letzte Teil (nach Kuba und Nicaragua) einer Trilogie über gescheiterte Revolutionen in Lateinamerika. Bedauerlich ist allein, dass die venezolanische Opposition, deren demokratische Grundhaltung zumindest in Teilen stark in Zweifel zu ziehen ist, weil einige in den Putschversuch von 2002 verstrickt waren, nicht näher beleuchtet wird. Hier hinterlässt das Buch einen etwas schalen Nachgeschmack – nicht zuletzt weil vieles, was Bahrmann schreibt, sich aus Oppositionsquellen speist.
taz: Herr Bahrmann, in Venezuela beanspruchen zwei Männer das Präsidentenamt für sich. Woran hängt es, wie dieser Machtkampf ausgeht?
Hannes Bahrmann: Juan Guaidó hat keine reale Macht, auch wenn er von außerhalb Venezuelas anerkannt wird. Die reale Macht liegt bei Nicolás Maduro, den Streitkräften und der regierenden Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas.
taz: Maduro hat die Ausweisung der US-Diplomaten angeordnet. Die Trump-Regierung erklärt, die Diplomaten bleiben. Ist da nicht plötzlich die Machtfrage sehr konkret?
Bahrmann: Ich halte das für eine der typischen Finten Maduros. Seit Beginn der großen Protestwellen 2015 macht er immer wieder die USA für alles Elend im Land verantwortlich. Aber die Fakten sind: Die USA sind nach wie vor der größte Handelspartner von Venezuela. Nicht Russland, nicht China, sondern die USA. Wenn aus den USA nicht jeden Tag 30 Millionen Dollar für Öllieferungen aus Venezuela gezahlt würden, dann wäre die Regierung bereits zahlungsunfähig. Venezuela betreibt in den USA das drittgrößte Tankstellennetz, die Citgo. Goldman Sachs hat 2017 die Staatsfinanzen von Maduro gerettet, indem sie für 2,8 Milliarden Dollar venezolanische Staatsanleihen kaufte. Maduros Vorwürfe Richtung USA haben keine Substanz.
taz: Sie sehen auch jetzt kein echtes Eskalationspotenzial?
Bahrmann: Ich weiß natürlich nicht, was in Trumps Kopf vorgeht. Aber: Die fast zwei Jahrzehnte regierende chavistische Regierung hat Venezuela sehr unattraktiv für jede Art der Intervention gemacht. Venezuelas Armee verfügt über modernste Luftabwehrsysteme, eine ziemlich schlagkräftige Luftwaffe, dazu allein 5.000 schultergestützte Luftabwehrraketen russischer Bauart in der Hand der Milizen. Das alles lässt jeden, der eben mal einen „chirurgischen Angriff“ planen sollte, ins Nachdenken kommen. Das wird es vermutlich nicht geben.
taz: Welche Perspektive haben dann Juan Guaidó und die Opposition?
Bahrmann: Seit vier Jahren ist klar: Die Opposition kann machen was sie will, sie kommt nicht weiter. Bei Wahlen wird betrogen – einzige Ausnahme: die Parlamentswahl 2015, wo der Vorsprung so groß war, dass das Ergebnis nicht mehr geleugnet werden konnte. Danach wurde wieder gefälscht. Und wenn die Opposition auf die Straße geht, steht sie der Macht des Sicherheitsapparates gegenüber: Von den colectivos in den Wohnvierteln, die mit Motorrädern und leichten Waffen ausgestattet werden und auf der Straße als Aufstandsbekämpfung agieren, über die Polizei, den Geheimdienst, die Milizen, bis zu den Streitkräften. Venezuela ist ein Land unter Waffen – dagegen kann keine Opposition angehen.
taz: Guaidó hat mehrfach die Armee gebeten, an der Seite des Volkes zu stehen. Hat er eine Chance?
Bahrmann: Da kann ich nur lachen. Denn das ist ja keine moralische Frage, sondern eine der Verteilung von Reichtum und Einkommen.
taz: Wie meinen Sie das?
Bahrmann: Eigentlich ist Venezuela eine Militärdiktatur, die sich nur zivil verkleidet. Militärs kontrollieren die größten Teile der verstaatlichten Wirtschaft. Sie sind Diplomaten, sie führen Ministerien, öffentliche Verwaltungen. Militärs leiten den Zoll, Steuerbehörden, Banken, die Bankenaufsicht, die wichtige Devisenverwaltung, die Metro, Flughäfen, Stromversorger, Nationalversicherung. Die Militärs sind völlig unantastbar. Eine solch privilegierte Situation kriegen die nie wieder! Sie haben nur alles zu verlieren, aber nichts zu gewinnen.
taz: Venezuela ist in einer Wirtschaftskrise, wie sie schlimmer kaum kommen kann: Hyperinflation, Halbierung der Erdölförderung, drei Millionen Geflohene, Minuswachstum. Da schließt sich ein „weiter so“ doch aus. Wo liegen Perspektiven, wenn es keinen Machtwechsel gibt?
Bahrmann: Es ist noch schlimmer. Venezuela hat seine Ressourcen bis weit in die 2020er-Jahre hinein schon verpfändet, an den führenden russischen Erdölkonzern Rosneft und an die Chinesen. Und die Sozialprogramme waren Quelle einer Korruption beispiellosen Ausmaßes. In den letzten 19 Jahren wurden über 500 Milliarden Dollar aus den Sozialprogrammen in die eigenen Taschen gewirtschaftet. Ein Beispiel ist Leutnant Andrade, Sicherheitschef von Hugo Chávez. Der wurde dann der Chef eines Sozialfonds, der Bank für Sozialentwicklung und des nationalen Schatzamtes. Durch die Swiss Leaks wurde sein Privatvermögen von fünf Milliarden Dollar offenbar. Und das ist nur eines von unzähligen Bespielen. Die Korruption ist die wichtigste Ursache für die Verelendung eines der reichsten Länder der Welt. Wer will denn in einer solchen Situation die Macht übernehmen?
taz: Das wollen ja nun gleiche mehrere.
Bahrmann: Dann soll denen mal jemand eine Anfangsbilanz aufmachen. Das Land ist auf Jahre hinaus verschuldet. Die Einnahmen gehen zurück und können auch nicht so schnell wieder gesteigert werden. Die Erdölindustrie ist seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr angemessen gewartet worden. Die Anlagen sind verschlissen, die Bohrlöcher verwahrlost. Das verlangt die Investition vieler Milliarden Dollar – wo sollen die denn herkommen?
taz: Wie schätzen Sie die Bedeutung der venezolanischen Krise für den Niedergang der Linken in Lateinamerika ein?
Bahrmann: Nicht so groß. Maduro hat solche Ansprüche auch gar nicht, wie sie Chávez noch hatte. Maduro ist an der Parteihochschule des ZK der KP Kubas als Perspektivkader ausgebildet worden. Als Mann der Kubaner hat ihn Chávez als Nachfolger ausgewählt, aber ihn drängt es nicht nach kontinentaler Bedeutung.
taz: Venezuela ist also nicht das abschreckende Negativbeispiel überhaupt?
Bahrmann: Brasilien ist viel wichtiger und zwar mit dem Thema Korruption. Sie macht auch vor der Linken nicht halt und was aus Brasilien von der Firma Odebrecht ausgegangen ist, ist ein Krebsgeschwür, was für den Niedergang der Linken vermutlich viel größere Bedeutung hat.
Besonders schwierig macht ein Einwirken von außen auch der zahlreiche Waffenbesitz. „Venezuela ist eines der wahrscheinlich militärisch am höchsten gerüsteten Länder weltweit“, so Hannes Bahrmann, Autor des Buches „Venezuela: Die gescheiterte Revolution“.
Der Lateinamerika-Fachmann erkärt die verschiedenen Einheiten:
„Die Armee ist von Russland in den letzten Jahren gut ausgerüstet worden und hat zwischen 230.000 und 270.000 Soldaten. Dahinter gibt es die Nationalgarde mit 70.000 Mann – das ist eine Polizeitruppe mit Überschneidungen zur Infanterie.
Dahinter gibt es die Milizen: Arbeitermilizen, Studentenmilizen, Frauenmilizen, Bauernmilizen. Das sind momentan 500.000 – diese Zahl stammt aus dem Jahr 2017. Es können mittlerweile mehr sein. Sie sind bewaffnet mit leichten Waffen, haben aber auch schultergestützte Anti-Luft-Raketen russischer Produktion. Eine starke Bremse für alle, die das Land überfallen wollen. Und dann gibt es noch die Collectivos von der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas – von Maduro gelenkt, sind sie bei Massendemonstrationen immer durch besondere Brutalität aufgefallen.“
Seine Prognose: „Es ist ein hochexplosives Gemisch und es bedarf nur eines unbedachten Schrittes und die Sache kann ganz furchtbar enden.“
Leserstimmen
Eva
"Mit seinem Venezuela-Buch schafft Bahrmann den letzten Teil der Trilogie zu den Revolutionen in Kuba, Nicaragua und Venezuela. Insbesondere die Darstellung der Vernetzung der drei Länder, die Bahrmann immer wieder deutlich in den Fokus stellt, macht das Buch lesenswert. Er erläutert die venezolanische Politik- und Wirtschaftsgeschichte, inklusive der daraus resultierenden Folgen für die Bevölkerung, vor allem anhand der prägenden Personen dieser Zeit. So schafft Bahrmann eine detaillierte Personengeschichte von Bolívar, Gómez, Jeménez und Chávez. Insbesondere Bolívar und Chávez werden in den Fokus gestellt.
Der Autor bleibt dabei sachlich und lässt sich nicht, wie viele Journalisten vom Schein des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ blenden. Er sieht die Verklärung der südamerikanischen sozialistischen Revolutionen, die in den europäischen Ländern vorherrscht, kritisch.
Wer einen sachlich-kritischen Überblick zur aktuellen politischen Situation in Venezuela sucht, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen."
Peter Reich
"Es sind deprimierende Ergebnisse, die diese von vielen Romantikern so gepriesene Revolution zustande brachte: mehr Armut, mehr Leid, mehr Hoffnungslosigkeit. Und es ist kein Ende dieser Tragödie in Sicht. Dabei hätte dieser Albtraum eigentlich schon vorbei sein müssen. Die Mehrheit der Venezolaner stimmte beim Abwahlreferendum im Jahr 2004 gegen Hugo Chávez. Aber wie man weiß, fallen die Entscheidung nicht diejenigen, die ihre Stimmen abgeben, sondern die, die sie auszählen. Hannes Bahrmann dokumentiert, wie vor dem Plebiszit getrickst und wie der Wahlausgang manipuliert wurden. Er legt offen, um was es diesen Revolutionären im Grunde geht; die Wahrung ihrer Macht. Um die zu festigen, kollaboriert das Regime auf Gedeih und Verderb mit den kubanischen Staatsführern."