Nicaragua: Die privatisierte Revolution

Nicaragua: Die privatisierte Revolution

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Es umfasst die Zeit von den 1970er Jahren, dem Beginn des Kampfes der Sandinisten gegen Somozas diktatorischen Familienclan, bis 2017, der Wiederwahl des einstigen Revolutionärs Daniel Ortega zum Staatspräsidenten. Er bildet den eigentlichen Mittelpunkt des Buches, denn an ihm exemplifiziert Hannes Bahrmann den Verrat an der Utopie vom Aufbau einer gerechteren Gesellschaftsordnung in Nicaragua, für die die Sandinisten ursprünglich gekämpft haben. Daniel Ortega war einer von 9 Kommandanten der kollektiven Führung, der unscheinbarste von allen, eine introvertierte und alles andere als charismatische Erscheinung. Als es darum ging, 1985 einen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, nominierte die Junta ihn, weil von ihm niemand Machtambitionen erwartete und „Wahlen im Konzept der Sandinisten eigentlich nicht vorgesehen waren“ – wie der Autor nachweist. 


Ortega wurde Präsident, verlor jedoch 1990 die Wiederwahl. Die Führungsschicht der Sandinisten war zerstritten und entpuppte sich als genauso korrupt wie andere Teile der politischen Elite. Ortega musste abtreten und hatte von da an nur noch ein Ziel: so schnell wie möglich zurück an die Macht. Er scheute nicht vor Allianzen selbst mit den reaktionärsten Kräften des Landes zurück: mit der katholischen Kirche, die für das schärfste Abtreibungsverbot in Lateinamerika gesorgt hatte, und mit Präsident Alemán, dem politischen Gegner par excellence, der später wegen Korruption verurteilt und von Ortega dann quasi begnadigt wurde. Mit Hilfe von dessen Gefolgsleuten gelang es ihm, die Verfassung so zu manipulieren, dass Ortegas Partei, die FSLN, nur noch 38% der Stimmen – so groß ist das Potential ihrer Stammwähler – für einen Wahlsieg benötigte.


Ohne einen spendierfreudigen Gönner wäre es Ortega 2006 nicht möglich gewesen, wieder Präsident zu werden und sich bis heute an der Macht zu halten. Hugo Chávez, Venezuelas verstorbener Präsident, trat auf den Plan und alimentierte das Regime mit günstigen Öllieferungen und rund 4 Milliarden Dollar in der letzten Dekade. Darüber konnte die Regierung unkontrolliert verfügen und hat davon beispielweise in Wahlkampfzeiten zahlreiche soziale Wohltaten an ihre Klientel verteilt. Inzwischen ist diese Quelle allerdings so gut wie versiegt.


Hannes Bahrmann führt noch einen dritten Faktor für den unaufhaltsamen Aufstieg von Präsident Ortega an: seine Frau Rosario Murillo. Sie ist die treibende Kraft und hat inzwischen eine Machtfülle erreicht, die selbst ihrem Mann gefährlich werden könnte. Doch die beide verbindet eine merkwürdige Komplizenschaft. Ortega soll Murillos Tochter aus erster Ehe missbraucht haben und zwar mit Einverständnis der Mutter. Beide bestreiten dies, die Anzeige der Tochter wurde juristisch nie verfolgt. Ein Prozess hätte aber auch sein – und ebenso ihr – politisches Ende bedeutet. Anfang dieses Jahres ließ der Präsident seine Frau zu seiner Stellvertreterin wählen. Das war nur folgerichtig, denn in der Regierung wird keine wichtige politische Entscheidung getroffen, die von ihr nicht abgesegnet ist. Sie gilt als herrschsüchtig, beratungsresistent und wird von der großen Mehrheit der Nicaraguaner abgelehnt. Auf ihre Darstellung hat Hannes Bahrmann besonderen Wert gelegt: sie durchzieht sein Buch wie ein roter Faden. Rosario Murillo ist es beispielsweise gelungen, durch politischen Druck, direkte Zensur und willkürliche Lizenzvergaben die kritische Berichterstattung weitgehend aus dem Fernsehen zu eliminieren. Wo das nicht auf Anhieb gelang, ließ sie Sender aufkaufen und setzte außerdem Söhne und Töchter an die Spitze von einem halben Dutzend Fernsehprogrammen. Die Familie Ortega beherrscht heute große Teile der Medien und außerdem ein weitverzweigtes Firmenimperium, das Hannes Bahrmann minutiös aufgelistet hat. Der außerordentliche Wert seines Buches liegt in der Fülle der Details, die er zu einem erschreckenden Portrait über verratene Ideale und rücksichtslose Machtpolitik verarbeitet hat. 



Leserstimmen


Christina


"Wenn man die Hintergründe zu den jüngsten Gewaltausbrüchen in Nicaragua verstehen will, dann ist das Buch von Hannes Bahrmann „Nicaragua – Die privatisierte Revolution“ der beste Wegweiser. Er beschreibt anschaulich, wie der ehemalige Comandante der Revolution Daniel Ortega mit der Kirche und seinen politischen Gegnern einen Pakt schloss, um 2006 erneut an die Macht zu kommen und seitdem die demokratischen Institutionen systematisch aushöhlte. Dafür installierte er an den Schaltstellen seine Familie: Seine Frau ist inzwischen Vizepräsidentin, die Kinder der Familie bekleiden wichtige Funktionen in Politik, Wirtschaft und Medien. Sie organisierten am Staat vorbei einen Schattenhaushalt, aus dem die eigenen Anhänger mit kleinen Wohltaten bedacht wurden. Finanziert wurde das Ganze über billiges Erdöl aus Venezuela, das nun aber nicht mehr fließt, da das südamerikanische Land selbst kurz vor dem Kollaps steht. (Als Ortega nun die Renten kürzen und die Rentenbeiträge anheben wollte, entlud sich der angestaute Groll über das autoritäre System.)

Es ist sicher bitter, all das zu lesen, wenn man einst mit der Sandinistischen Revolution sympathisiert hat, aber Bahrmann zeigt anhand vieler Details sehr überzeugend wie die Entwicklung der letzten Jahre verlaufen ist. Ich kenne kein aktuelleres und besseres Buch zu Nicaragua."


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